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AutorenbildUlrike

Das Leben als Kartenspiel

Ein verregneter Sommertag. Die Familie sitzt beim Kartenspiel zusammen. Es wird Rommé gespielt. Als alle Karten ausgeteilt sind, seufzt die Oma: „So ein doofes Blatt, damit kann man ja gar nichts anfangen. So ein Pech aber auch!“ Der Enkel dagegen scheint beglückt zu sein: „Ich habe super Karten! Und ich fange auch gleich an!“ Der Opa schaut seine Karten an, sortiert sie still und folgt gespannt dem Spielverlauf. Karten werden gezogen, abgelegt, eingetauscht, aus- und angelegt. Und am Ende gewinnt: der Opa. Nächstes Spiel, gleiches Muster: Karten werden ausgeteilt, Oma seufzt, Enkel juchzt, Opa sortiert still seine Karten.



Beim Rommé spielen wurde mir eins bewusst: das Leben ist wie ein Kartenspiel. Du bekommst ein bestimmtes Set ausgeteilt, aber das ist noch lange nicht das Ende des Spiels. Es ist lediglich die Ausgangssituation, aber was während des Spiels passiert, kannst du in dem Moment, wo du deine Karten anschaust, noch gar nicht wissen. Du kannst im Laufe des Spiels jederzeit die richtige Karte ziehen, Joker eintauschen und stets deine Karten neu sortieren – je nachdem, was das Spiel und die anderen Spieler gerade anbieten. Genauso gut kannst es aber auch sein, dass die richtige Karte lange nicht oder auch gar nicht auftaucht, oder dass ein anderer Spieler sie bekommt – dann gilt es, umzudenken und andere Wege zum Ziel zu suchen und vor allem offen zu sein für alles, was deine Mitspieler und der Kartenstapel dir anbieten. Das ist dann vielleicht nicht das, was du dir vorgestellt hattest, aber nur so kommst du zum Ziel. Wenn du dich allerdings allein auf die Strategie verlässt, die du dir anfangs aufgrund deines Kartenblatts zurechtgelegt hast, kann es sein, dass du nie ankommst und enttäuscht oder frustriert bist.


Um auf die Kartenspiel-Situation zurückzukommen: warum hat der Opa gewonnen? Er war weder euphorisch noch enttäuscht über sein anfängliches Kartenblatt. Er nahm es einfach als das, was es war: das anfängliche Kartenblatt und war gespannt auf das Spiel. Was im Laufe des Spiels passieren würde, wusste er genauso wenig wie die anderen Spieler, aber er war offen für alles, was das Spiel zu bieten hatte. Die Oma dagegen sah sich aufgrund der anfänglich ausgeteilten Karten schon als Verliererin und übersah dadurch Chancen, die sich ihr im Laufe des Spiels boten. Ähnlich erging es dem Enkel – in seiner Euphorie wurde er unaufmerksam und verließ sich einzig und allein auf sein gutes Ausgangsblatt.


Interessanterweise wiederholte sich diese Situation: die Oma hatte in jedem Spiel ein vermeintlich schlechtes, und der Enkel ein vermeintlich gutes Blatt, während der Opa sich nie dazu äußerte, aber die meisten Spiele gewann. Lag das an den Karten? Mit Sicherheit nicht, denn jeder Spieler hat am Anfang die gleichen Chancen, und die Karten werden jedes Mal neu gemischt.


Was hat das mit dem Leben zu tun? Wir alle bekommen bestimmte Voraussetzungen mit auf den Weg, aber das heißt nicht, dass diese unser Leben bestimmen. Wie wir damit umgehen, bestimmen wir immer noch selbst, und diese Freiheit kann uns auch niemand nehmen!


„Nicht das Problem macht die Schwierigkeiten, sondern unsere Sichtweise.“ Viktor Frankl, Holocaust Überlebender

Situationen, die uns heute als schlimm oder ausweglos erscheinen, können im Laufe des Lebens eine überraschende Wendung nehmen – wenn wir dafür offen sind. Das Leben ist immer für uns, aber in welcher Art und Weise sich das zeigt, wissen wir erst hinterher.


Die Kunst besteht also darin, jede Situation (ob wir sie uns nun gewünscht haben, oder nicht) zunächst einmal anzunehmen, so wie das anfängliche Kartenblatt, ohne es in irgendeiner Art und Weise zu bewerten. Was sich daraus ergibt, können wir in dem Moment noch nicht wissen, denn niemand war jemals in seiner eigenen Zukunft. Wir können aber aufgrund dessen, was die Karten bzw. das Leben uns anzeigen, Entscheidungen treffen und das Ganze in eine bestimmte Richtung lenken – so, wie wir auch beim Rommé bestimmte Dinge annehmen, andere dagegen wieder abwerfen oder umtauschen, um ans Ziel zu gelangen. Und je nachdem, was das Leben uns unterwegs zu bieten hat, können wir jederzeit unsere Karten neu sortieren und andere Entscheidungen treffen. So bleiben wir im Fluss und offen für das Abenteuer Leben.


Wenn wir uns jedoch dagegen wehren, leiden wir, denn das Leben ist immer das, was es gerade ist – ob wir das nun wollen oder nicht.





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